Luther reloaded

Ein neues Bild von Martin Luther

 

Martin Luther (1483 – 1546) ist eine der interessantesten Gestalten der Geschichte - eine Identifikationsfigur, die bis heute polarisiert. Der Reformator war nicht nur der meistgelesene Autor, sondern auch eines der prominentesten Gesichter seiner Zeit. Die Werkstatt des Malers Lucas Cranach in Wittenberg reproduzierte Luthers Porträt mittels Schablonen und Lochpausen in serieller Variantenpraxis und machte es so zum repräsentativen ‚Markenzeichen’ der Reformation.

 

Auch die St.-Cosmae-Kirche in Stade besitzt ein historisches Porträt des Reformators. Vorbild der Stader Nachschöpfung war das ‚Frankfurter Porträt’ Cranachs d. Jüngeren aus dem Jahr 1559. Es stellt Luther nach einem Schema dar: „Im Halbporträt sitzt Luther wuchtig und streng nach rechts gewendet. Er ist barhäuptig und ergraut, trägt einen Talar und hält ein offenes Buch in den Händen.“ Gerrit Walczak

 

Auf dem Stader Bild lenkt Luthers Finger den Blick auf einen Vers: „Aber darumb ist mir barmhertzigkeit wiederfahren, auf das an mir furnehmlich Jhesus Christus erzeigte alle gedult, zum Exempel denen, die an in glauben solen zum ewigen leben.“ (1. Timotheus 1,15-2,2).

 

Die Botschaft steht im Vordergrund, der Mensch tritt dahinter zurück. Von Irrtümern, innerer Angefochtenheit oder Luthers Ringen um Glauben und Gewißheit wissen diese Porträts nichts. Stattdessen betonen sie Würde und Standfestigkeit des reifen Reformators. Der Mensch Martin Luther ist auf ihnen unnahbar und denkmalhaft - zur Ikone erstarrt.

 

„Cranachs Luther war menschlich und übermenschlich zugleich. Auf den Bildern wurde er mehr und mehr zum menschlichen Fels, zu jemandem, der auch dem größten religiösen Sturm standhielt, der den Weg kannte.“ Ulrike Knöfel

 

Das hat die Malerin Anja Seelke fasziniert. In Auseinandersetzung mit der Luther-Ikonographie der Cranachs widmet sie Martin Luther ein neues Bild. Die St.-Cosmae-Gemeinde präsentiert den Dialog zwischen aktueller und historischer Porträtmalerei als Beitrag zum Reformationsjubiläum 2017 im Hauptschiff der Kirche.

Auf der großformatigen Acrylarbeit driftet alles auseinander. Die konventionelle Wirkung des Genres Porträt ist in Auflösung begriffen. Die kaum greifbare Figur, wie auf dem Vorbild nach rechts gewandt, ist in eine abstrakte Fläche widerstreitender Kräfte eingebunden, die sie zugleich durchbricht.

 

Luthers unruhiges Antlitz formiert sich inmitten der wirbelnden Farbfetzen als fragiles Bruchstück. Sein Blick, von Rissen bedroht, sucht mit fliehender Bestimmtheit den Betrachter. Der Mund, Zentrum wie Teil der Dynamik, ist bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Was malerisch hervorgebracht wird, wird gleichzeitig verundeutlicht. Die Hand verweist noch immer, nur – die Botschaft fehlt. Das Bild ist ein Fragment. In der Dialektik zwischen Verlebendigung und Fragmentierung bewahrt Anja Seelkes Lutherporträt bewußt die historische Distanz.

 

„Wie getrieben von Obsessionen der Mann war. Dieser irrende, überforderte Luther, wie er einem dann als historische Figur vor Augen steht, kann zwar keine unmittelbaren Weisungen für die Gegenwart vermitteln. Aber ich halte ihn für hilfreicher als den Heroen, den frühere Generationen aus ihm gemacht haben.“ Thomas Kaufmann

 

"Anja Seelkes Lutherbild ist anders. Vieles ist gebrochen, zerrissen, verfremdet in diesem Porträt, der Körper dekonstruiert. Und doch zeigt dieser Luther, bei aller Verfemdung, Gesicht. Das Porträt bildet nicht einfach ab, sondern fordert den Betrachter heraus. Die Hand ist beinahe gegenständlich aus dem historischen Stader Lutherbild übernommen. Aber worauf zeigt sie? Die Deutung, den Verweis, liefert dieses Bild nicht. Paul Klee sagt: 'Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar'. Luther war ein spannungsvoller Mensch, voller Glaubenszuversicht und auch tief niedergeshclagen, spaßig-heiter und bitter ernst. Er war in Vielem lehrreich, ein großartiger Lehrer der Botschaft, daß wir in aller Zerrissenheit und Bruchstückhaftigkeit von Gott angenommen sind. Aber er hat auch Furchtbares und Fremdes gesagt: ein Mensch der Moderne und auch noch tief im Mittelalter verhaftet, ein Mensch zwischen Gott und Teufel. Das wird in diesem Bild sichtbar. Ich finde es hoch spannend."

Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy, Stade.

 

Ein Förderprojekt der evangelischen Landeskirche Hannover,  2017

"Luther reloaded" in der St.-Cosmae-Kirche und beim Empfang anläßlich des Reformationsjubiläums im Foyer des Historischen Rathauses in Stade.